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Morbides MV II: Sassnitz-Dwasieden

Sturmtief Gisela zog vor wenigen Tagen über die Küsten hinweg, es wird früher dunkel, die Blätter allmählich bunt - keine Frage, die dunkle Jahreszeit hält mit aller Macht Einzug. Genau wie letztes Jahr gehen wir auf Entdeckungstour durch die dunklen Seiten des schönen Mecklenburg-Vorpommern...

 

Der Oktober hatte ein Treffen der Fotofreunde Stralsund auf dem Zettel. Wir entschieden uns für einen morbid-schönen Ort auf der Insel Rügen: die Schlossruine Dwasieden, die uns die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts an einem Ort erzählt. Kleiner Disclaimer vorweg: Wer nach dem Lesen selbst einmal Lust hat, das Gelände zu erkunden, tut dies stets auf eigene Gefahr. Die Gebäude sind einsturzgefährdet, im Wald befindet sich noch immer Stacheldraht und dort in ungekennzeichneten Eimern abgelegter Müll ist auch nicht immer ungefährlich. Wie bei jedem "Lost Place" gilt: erst Kopf einschalten, Augen aufmachen und erst dann den Ort mit gutem Schuhwerk betreten.

 

 

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Die Fassade des Marstalls des Schlosses Dwasieden

 

 

Anwesen eines der wohlhabendsten Männer des Reiches

 

Das "Schloss Dwasieden" war kein Schloss im eigentlichen Sinne. Es handelte sich vielmehr um ein gewaltiges Herrenhaus, das in den Jahren 1873 bis 1877 errichtet wurde. Bauherr war Adolph von Hansemann - unschwer vorstellbar, dass er nicht "irgendwer" war. Seines Zeichens war er Inhaber der Disconto-Gesellschaft, die 1929 mit der Deutschen Bank fusionierte. In dieser Funktion baute Hansemann ein Vermögen auf, das ihn zu einem der reichsten Menschen des noch jungen Deutschen Reiches machte.


Exkurs: Das Deutsche Reich wurde maßgeblich durch den Einfluss von Otto von Bismarck gegründet. Nach mehreren später als "Reichseinigungskriege" bezeichneten Auseinandersetzungen mit Österreich, Dänemark und vor allem Frankreich wurde am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles das Deutsche Kaiserreich ausgerufen. Damit war die Ära der "Kleinstaaterei" beendet und die Teilstaaten wurden (unter der quasi-Führung von Preußen) als Deutsches Reich unter Kaiser Wilhelm geeint.


Einzigartiger Prachtbau

 

Der schier unermessliche Reichtum des Bauherrn spiegelte sich nicht nur in den schieren Dimensionen des Geländes wider, das ein Ausmaß von sage und schreibe mehr als 100 Hektar einnahm. Auch die verwendeten Materialien waren exquisit: beim "Schloss" Dwasieden wurden unter anderem Granit, Sandstein und echter Marmor verwendet, was es im gesamten norddeutschen Raum zum einzigen seiner Art machte. Das Haupthaus war von quadratischem Grundriss und zweigeschossig.

 

Vom Hauptgebäude führten sogenannte Kolonaden ab. Das waren Säulengänge, die in tempelartigen Pavillons mündeten. Deren Überreste sind auch heute noch teilweise erhalten, lassen die einstige Schönheit aber nur noch erahnen. Der eigentliche Schatz des Herrenhauses soll die Innenausstattung gewesen sein, die vor Gemälden und anderen Kunstwerken gespickt gewesen sein soll. Hansemann ließ auch dafür repräsentative Räume einrichten, die für die Öffentlichkeit zugänglich waren.

 

 

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Säule in einem Pavillon des Haupthauses in Dwasieden.

Zeit des Niedergangs

 

Dwasieden sähe heute nicht aus, wie es aussieht, wenn es immer so weiter gegangen wäre. Nein, der Reichtum der Familie Hansemann währte ebenfalls nicht ewig. Im Jahre 1935 sah sich Gert von Oertzen, Enkel des Gründers Hansemann, veritablen finanziellen Problemen gegenübergestellt. Sein Vermögen hatte wohl im Nachgang der Weltwirtschaftskrise und Inflation stark gelitten. So sah er sich gezwungen, das 1917 geerbte Schloss an die Stadt Sassnitz zu verkaufen. Im guten Glauben, dass die gesamte Anlage in einen Kurpark für die Allgemeinheit umgewandelt werde, verkaufte von Oertzen sogar unter Wert.

 

Die Stadt Sassnitz reichte es allerdings fast unmittelbar an die Kriegsmarine weiter, die das Schloss Dwasieden zur Marineschule umfunktionierte. Im Haupthaus wohnten fortan Offiziere, auf dem Gelände wurden Unterkünfte für Soldaten angelegt. Hauptsächlich wurden wohl Übungen zur Entfernungsmessung für Schiffsartillerie durchgeführt.

 

 

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Im Heizhaus der militärischen Anlagen.

 

 

Befehl Nr. 209

 

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bezog die Rote Armee die Anlagen in Dwasieden. Der Zustand der Anlage zu diesem Zeitpunkt ist leider nicht dokumentiert. Einige Luftaufnahmen der Royal Air Force legen die Vermutung nahe, dass die Anlage mindestens einmal Ziel eines Bombenangriffs war. Dies ist auch naheliegend, da die britische Militärführung sicherlich Kenntnis von der Marineschule hatte. Andererseits lässt sich aus den Aufnahmen nicht sagen, ob es tatsächlich Beschädigungen gab und wenn ja, wie schwerwiegend diese waren.

 

Das eigentliche Ende des Schlosses läutete jedenfalls der Befehl Nr. 209 der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) ein. Es wurde die Sprengung des Schlosses befohlen: einerseits wegen der Vergangenheit als militärisches Objekt der deutschen Armee, andererseits sollte die gewaltige Anlage im Zuge der Bodenreform komplett beseitigt werden. Letztlich blieb aber der Marstall erhalten - er diente weiterhin als Offiziersherberge.

 

Die Nutzung durch die Volkspolizei-See, dem Vorläufer der Volksmarine der DDR, wurde weitergeführt und intensiviert. Ab 1952 gründete die Marineführung hier eine geheime U-Boot-Schule. Außerdem wurde ein Ingenieursbattailon sowie eines zur Chemischen Abwehr in den Anlagen von Dwasieden stationiert. Aus dieser Zeit stammt wohl auch ein großer Teil dessen, was heute noch besichtigt werden kann. Werk- und Lagerhallen, Barracken, ein Heizhaus, verschiedene Bunker - schier unmöglich, das alles an einem einzigen Tag zu erkunden.

 

 

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Weiteres Gebäude vermutlich aus NVA-Zeiten mit unbekannter Funktion.

Exkurs: Nach dem Zweiten Weltkrieg war es lange fraglich, wie es mit Deutschland überhaupt und insbesondere dem Militär im Speziellen weitergehen soll. Um die Aufrüstungen im Ost- und Westteil zu verschleiern, bekamen die quasi-militärischen Verbände harmlosere Bezeichnungen. In den westlichen Zonen wurde der "Bundesgrenzschutz" aufgebaut. In der sowjetischen Besatzungszone sprach man von "Kasernierter Volkspolizei" oder eben "Volkspolizei-See". Nach der offiziellen Gründung der Bundeswehr wurden die Teilstreitkräfte dann in "Nationale Volksarmee" (NVA) bzw. "Volksmarine" (VM) umbenannt.


Zusammenbruch des Ostblocks

 

Mit dem Ende des Kalten Krieges näherte sich auch das Ende der aktiven Nutzung der militärischen Anlagen in Dwasieden. Die polnische Gewerkschaft Solidarnosc erschütterte das dortige Regime, in Berlin fiel die Mauer und im Oktober 1990 war die DDR nach vier Jahrzehnten von der Landkarte verschwunden - und mit ihr das Militär. Fortan lagen die Anlagen verlassen und unbeaufsichtigt am Stadtrand von Sassnitz. Abentuerspielplatz für Kinder am Tage und am Abend bestimmt häufig Treffpunkt für jugendliche Gelage. Das einstige Sperrgebiet verfiel und verrottete, vieles fiel Vandalismus zum Opfer. Im Jahr 1997 brannte der Marstall vollständig aus, sodass heute nur noch die Fassade erhalten ist. So endete die Ära 'Dwasieden' nach etwa 120 Jahren.

 

 

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Flur im Heizhaus.

 

 

El Dorado morbider Stimmungen

 

Unser Besuch im Oktober hatte aus fotografischer Sicht sehr gute Bedingungen. Tolles, aber nicht zuviel Licht, trockenes Wetter und ein bisschen angefärbtes Laub. Das hätte natürlich noch etas bunter sein dürfen, aber.... irgendwas ist ja immer. Es waren mehr Fotografen bzw. überhaupt Besucher unterwegs, als wir im Vorfeld gedacht haben, jedoch verläuft es sich auf dem riesigen Gelände sehr schnell. Von einem stark frequentierten oder gar überlaufenem Ort kann auch überhaupt keine Rede sein. Aufgrund des schönen, aber im Oktober naturgemäß schon sehr kurzen Lichts haben wir neben der Schlossruine selbst leider nur das Heizhaus und ein Nebengebäude näher erforschen können, bis es schließlich zu dunkel war. Aber es ist ja nicht aller Tage Abend...

 

Wer offenen Auges unterwegs ist und sich auf eigene Gefahr (!) in die baufälligen Gebäude mit seiner Kamera begibt, bekommt eine Fülle morbider Stimmungen von Licht, Zerfall und Vergänglichkeit vor die Linse. Wenig überraschend ist das große Ausmaß an Vandalismus, das in den letzten dreißig Jahren in Dwasieden Einzug hielt. Aus meiner Perspektive gehört das zu so einem Ort genau wie die Graffiti an den Wänden. Nicht schön, aber ein solcher Ort ist eben nicht "steril". Was bleibt ist die Faszination, an einem Ort die Brennpunkte des 20. Jahrhunderts zu spüren: Reichsgründung unter Kaiser Wilhelm, Weltwirtschaftskrise, die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges und die folgende zweite Diktatur der DDR-Zeit, den Kalten Krieg und der Zusammenbruchs des sogenannten Ostblocks - last but not least auch den Frust der Nachwendezeit, der sich in alkoholhaltigen Feiern und Wutausbrüchen der lokalen Jugend Bahn brach.

 

Was denkt ihr - gut, dass das Gelände so ist, wie es ist oder sollte es zueiner neuen Nutzung umgewandelt werden?

 

Bis zum nächsten Mal und bis dahin eine schöne Zeit!

 

Felix

HEIMATLICHT:MV

 

Weiterführende Links:

 

Besonderer Dank an die exzellenten und lesenswerten Artikel von Dirk Trute (dirk-trute.de) und Stefan Witte (vergesseneorte.com), die die Recherche extrem vereinfacht haben. Wenn euch das Thema interessiert, schaut unbedingt mal auf beiden Links vorbei!

 

Wikipedia zu Adolph von Hansemann

 

Ralf Lindemanns Seite (schloss-dwasieden.de) mit Angeboten zu Führungen, Literatur und Bildmaterial zum Schloss Dwasieden

 

Morbides MV Teil I - der Friedhof St. Jürgen

 

Die Alte Welt V - der Svantevitstein

 

Bornholm in Schwarzweiß - meine kleine dreiteilige Serie zum Thema Bildbearbeitung von S/W-Motiven

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