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Dorfkirche Gustow - von Siedlern, Schatten und Sühnesteinen

Moin!

 

Wer meinem Instagram-Account folgt, hat ja bereits schon einiges über die Dorfkirche von Gustow auf der schönen Insel Rügen erfahren. Die habe ich als Zwischenstopp während einer Radtour von Stralsund auf die Halbinsel Drigge besucht (falls du den Bericht meiner letzten Wanderung auf der Insel lesen möchtest, findest du den Blogpost hier!).  Ein Grund, hier zu bloggen war ja, die im Instagram-Feed erzählten Geschichten noch detaillierter ausbreiten zu können. Genau damit möchte ich heute anfangen!

 

Im Falle der Gustower Dorfkirche ist wohl das Kurioseste, dass sie an ihrem Orte stand, bevor das Dorf selbst existierte. Mit dem Bau wurde um 1250 begonnen, die Siedlung jedoch erst 1314 urkundlich erwähnt.

 

Zeit des Umbruchs

 

Das 13. Jahrhundert war ein Zeitraum der Transformation, der insbesondere in Mittel- und Osteuropa von der hochmittelalterlichen Ostexpansion geprägt war (früher: 'deutsche Ostexpansion' bzw. '-kolonisation'; die Bezeichnungen wurden aber aus verschiedenen Gründen verworfen).  Kurz gesagt geht es dabei um kulturellen, technischen und juristischen 'Export' aus dem Westen und Zentrum des Heiligen Römischen Reiches Dt. Nation in dessen östlichen Randgebiete und darüber hinaus.  In Vorpommern wanderten in diesem Zuge deutsche Siedler in die bisher mehrheitlich slawisch bevölkerten Gebiete ein. Sie brachten beispielsweise den Eisenpflug mit, der den bis dahin in der Region üblichen Holzpflug ersetzte; ein neues Rechtssystem führte zur Gründung neuer (Stralsund, Greifswald, Neubrandenburg, Rostock...) oder Erweiterung bestehender Städte und Dörfer (Lübeck, Havelberg (Brandenburg)); das Christentum setzte die noch bestehenden polytheistischen Naturreligionen (bspw. die der heidnischen Wenden) zusätzlich unter Druck.

 

Vorpommern und speziell Rügen war eines der letzten Gebiete in Mitteleuropa, das noch nicht vollständig christianisiert war. Ein entscheidender Schritt zum Ende slawisch-polytheistischer Religion war der Fall der Jaromarsburg am Kap Arkona im Jahre 1168, was wiederum eine Spätfolge des Zweiten Kreuzzuges ('Wendenkreuzzug') unter Heinrich dem Löwen von 1147 war.  Es war also eine unruhige Zeit großer, fundamentaler Umbrüche, in die der Bau der Gustower Dorfkirche fiel. Eine seit Jahrhunderten bestehende Welt neigte sich ihrem Ende zu, während gleichzeitig eine neue Zeit sich unaufhaltsam Bahn brach.

 

 

Der Kirchenbau

 

Nachdem der gotische Kirchenbau in Gustow um 1250 mit der Errichtung des Chores begonnen wurde, müssen sich rundherum auch erste Siedler eingerichtet haben. Allerdings dauerte dies so seine Zeit, da dann die urkundliche Erwähnung erst 1314 stattfand. Im selben Jahrhundert wurde das Hauptschiff fertig. Es wurde Anfang des 15 . Jahrhunderts mit wertvollen Malereien ausgeschmückt, die in den folgenden Zeiten verschwanden - vielleicht durch modisch-zeitgeistliche Umgestaltungen oder schlichtweg Erhaltungsmaßnahmen. Das ist leider nicht abschließend zu klären! Das Gewölbe der Kirche wurde im Jahre 1517 fertiggestellt - das verrät der Schlussstein, der überhaupt erst für die gesamte Stabilität und Belastbarkeit des Gebäudeteils sorgt.

 

Eine ausgesprochene Besonderheit ist der Sühnestein, auch Mordwange genannt, der im nordöstlichen Bereich des Kirchhofs errichtet wurde.  Grund dafür war der Totschlag des Pfarrers Thomas Nohrenberg durch betrunkene Bauern in der Faschingszeit des Jahres 1510. Ob es sich wirklich so zutrug? Überlieferte Schriftzeugnisse gibt es nicht. Einerseits könnte der Geistliche erschlagen worden sein, wie es die Inschrift auf dem Stein nahelegt - andererseits ist über dem Kopf der das Opfer darstellenden Person ein Schwert abgebildet. Üblicherweise wird so die Todesart dargestellt. Wurde Thomas Nohrenberg also doch erstochen? Wie so oft gilt: wir werden es nicht abschließend klären.  Gesichert ist, DASS eine Gewalttat stattfand, denn es sind Name des Opfers, sein Beruf, der Ort und ein ziemlich genauer Zeitraum des Totschlags überliefert. Für eine bloße Legende ist das zuviel. Von solchen Sühnesteinen gibt es übrigens noch insgesamt drei auf der gesamten Insel Rügen!

 

 

Kleine Meisterwerke des Barock

 

Im Jahre 1677 brannte die Dorfkirche zu Gustow. Das gesamte Dach stand in Flammen, was zu großen Schäden führte. Das Dach und darunter liegende Teile der Mauer des Hauptschiffs mussten erneuert werden.  Die aufwendigen Instandsetzungen fanden von 1708 bis 1734 statt. In der anschließenden Zeit wurde die barocke Ausstattung des Innenraums vorangetrieben - u. a. Altar, Emporen und Orgeln wurden in den kommenden Jahren gefertigt, vornehmlich in Stralsunder Werkstätten.  Ich hoffe, das Innere der Kirche auch noch einmal in Ruhe fotografieren zu können!

 

Die Stürme der Moderne

 

Das 20. Jahrhundert hinterließ seine Spuren auch in Gustow. Neben der Errichtung von Gefallenendenkmälern für Gustower Soldaten der Kriege von 1870/71 sowie des Ersten Weltkrieges, wurden 1935 umfangreiche Sanierungen durchgeführt. Dabei kamen die oben erwähnten Malereien auch wieder zum Vorschein, die vorher jahrhundertelang verborgen blieben. Nach dem Ende des Krieges setzte die sozialistische Diktatur der kleinen Kirche sehr zu - bauerhaltende Maßnahmen fanden so gut wie gar nicht statt. Diese bewusste, kulturgutbedrohende Verwahrlosung betraf nahezu alle Dorfkirchen in Mecklenburg-Vorpommern. Erst nach der Wende konnten ab 1990 umfangreiche (und bitter nötige!) Renovierungen begonnen werden. Dafür fanden sich viele Spender, besonders auch aus den "alten" Bundesländern. Dazu gibt es eine tolle zweiteilige Dokumentation des Vereins Dorfkirchen in Not e.V., die man sich unbedingt ansehen sollte, wenn einen das Thema interessiert!

 

 

 

Fotografischer...

 

Der Besuch der Dorfkirche Gustow war sehr... "still", aber trotzdem intensiv. Auf dem Gelände habe ich mich bald eine Stunde aufgehalten, sodass ich tief in die Stimmung und Atmosphäre des Ortes eintauchen konnte. Die frühsommerliche Ruhe eines Samstagnachmittages wurde auch nicht durch die Lage mitten im Dorf gestört. Gustow ist keine Hauptverkehrslinie Richtung Ostseeküste, sodass es hier in aller Regel bestimmt sehr gediegen ist. Sehr spannend war die geschichtliche Spurensuche sozusagen "ohne Anleitung" - indem ich Wissen aus vorherigen Besuchen von Dorfkirchen kombinierte: Bauelemente, Priesterpforte usw. galt es für mich zu erkennen. Trotzdem war etwas ganz anderes aus fotografischer Sicht am faszinierendsten - nämlich das Schattenspiel an der Wand des mittelalterlichen Glockenhauses. Es entstand durch die Nachmittagssonne, die durch das dichte Blätterdach der die Kirche umgebenden Bäume schien. Am Ende seht ihr noch einige Fotografien davon!

 

...und gedanklicher Nachgang

 

Was mich im Nachhinein beschäftigte, wird mich bei der nächsten Dorfkirche wieder fesseln: die Konzentration von jahrhundertelanger Geschichte an einem Ort. Die Tatsache, dass ich mich im Mai 2019 auf mein Fahrrad gesetzt habe, um zur Dorfkirche Gustow zu fahren, ist letztlich eine Folge hochmittelalterlicher Geschehnisse - denn ohne die hochmittelalterliche Ostexpansion, die deutschen Siedler usw. hätte es ja gar keine Kirche zu besuchen gegeben. Ohne die betrunkenen Bauern und Pfarrer Thomas Norenberg keinen seltenen Sühnestein von der Schwelle des Mittelalters zur Renaissance usw. Mit ein bisschen Spurensuche kannst du die Geschichte deiner Umgebung leicht erforschen...

 

...welchen Ort hast du auf deiner Liste? Kennst du einen spanneden Ort in Stralsund, auf Rügen und Umgebung, den es sich lohnt zu erkunden? Ich bin gespannt auf deine Vorschläge!

 

 

In diesem Sinne wünsche ich dir eine schöne Zeit!

 

Bis zum nächsten Mal,

 

Felix

HEIMATLICHT:MV

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